„Once upon a Time…“ Diese geflügelten Worte zieren den Titel von Quentin Tarantinos neuntem Film. Und es ist nicht das erste Mal, dass uns der klassische Beginn aller Märchen bei dem Regisseur begegnet – bereits in „Inglorious Basterds“ spielte er eine wichtige Rolle. Was die beiden Filme außerdem gemeinsam haben: Sie nehmen es mit der Realität nicht ganz genau und spielen so mit festen Erwartungen. Doch was macht das mit uns beim Zuschauen?
Spoilerwarnung: Im folgenden Text wird auf den Inhalt der beiden Filme „Once upon a Time in Hollywood“ und „Inglorious Basterds“ eingegangen. Wer diese ohne Vorwissen sehen möchte, sollte dies baldmöglichst tun und dann zu diesem Text zurückkehren.
Kein Film entspricht je voll und ganz der Realität. Es ist wohl jedem*r Zuschauer*In klar, dass auch das einfühlsamste Biopic, auch der am besten recherchierte Historienfilm nie dem entsprechen, was wirklich geschehen ist. Schon aus dramaturgischer Sicht müssen Filme hiervon abweichen. Was aber geschieht, wenn sich ein Werk ganz absichtlich von den bekannten Fakten abwendet und damit eine Parallelrealität schafft? Was passiert insbesondere mit den Zuschauenden, wenn in dieser Parallelrealität Schreckliches berichtigt und Übeltäter ihrer gerechten Strafe zugeführt werden?
Wer sich ein wenig mit der jüngeren amerikanischen Geschichte auskennt, dem wird zum Ende der Sechziger neben Woodstock, der Mondlandung und dem Bloody Sunday in Selma vermutlich noch mindestens ein weiteres, tragisches Ereignis einfallen: Die grausame Ermordung der hochschwangeren Sharon Tate duch die Manson Family.
„Once upon a Time in Hollywood“ steuert als Film unausweichlich auf ebenjenen Mord zu. Immer wieder zeigt uns der Film die lebenslustige Tate, die ihr Leben in Hollywood in vollen Zügen genießt. Er konfrontiert uns mit der Mörderfamilie von Charles Manson auf der Spahn-Ranch. Und er lässt uns zappeln. Wer mit dem Vorwissen um die Ereignisse ins Kino geht, glaubt über nahezu zweieinhalb Stunden bereits zu wissen, wie der Film enden wird: Mit dem Mord an Sharon Tate.
Doch Regisseur Quentin Tarantino hält sich nicht an das historische Faktum. Statt der Villa von Tate und ihrem Ehemann Roman Polanski wählen die Mitglieder der Manson-Family das Haus von Protagonist Rick Dalton (gespielt von Leonardo Di Caprio) aus – um dort ihr blutiges Ende durch diesen, sein Stunt-Double Cliff Booth (Brad Pitt) und dessen Pitbull Brandy zu finden.
Wie von anderen Geschichten auch erwarten wir als Zuschauende von Filmen oft, dass sie uns eine Flucht aus dem Alltag bieten. Insbesondere gilt dies für stilisiertes Unterhaltungskino, wie wir es von Tarantino gewohnt sind. Die unaufhaltsame Katastrophe, die der Mord an Sharon Tate darstellt, steht in einem krassen Gegensatz dazu. Sie macht es dem Publikum unmöglich, sich vollends auf die Realitätsflucht einzulassen. Denn das Verbrechen bleibt beim Zusehen stets im Hintergrund präsent.
Erst der Bruch mit der Realität durch die Helden der Geschichte ist es, was den Zuschauer*Innen nach nahezu zweieinhalb Stunden das Durchatmen und Fallenlassen erlaubt. Das Unausweichliche wird abgewendet, das Unerwartete löst das zu Erwartende ab. Dass ebendiese Katharsis dann auch noch in Form der bisher ausgebliebenen, für Tarantino so typischen übertriebenen Gewaltdarstellung stattfindet, macht den Höhepunkt des Films umso befreiender.
Ganz ähnlich wie „Once upon a Time in Hollywood“ erscheint das Ende eines weiteren Films von Quentin Tarantino. In „Inglorious Basterds“ treffen wir auf die größtenteils jüdische Guerilla-Truppe der namensgebenden Basterds. Diese schmieden im Laufe des Films den Plan, ein Kino in die Luft zu sprengen, in dem sich neben einem großen Teil der NSDAP-Führung auch Adolf Hitler persönlich befinden soll. Obwohl bereits die Planung des Attentats schiefgeht, stürmen am Ende des Films zwei der Basterds die Loge und töten diesen, während eine Projektion an der Leinwand die jüdische Rache an den Nazis verkündet.
Hier bekommt die alternative Realität und die Bestrafung der Übeltäter also noch einmal eine deutlich persönlichere Note. Denn anders als in „Once upon a Time in Hollywood“, wo die Manson-Family nur durch Zufall das Haus von Rick auswählt, haben die Basterds und die Kinobetreiberin Shoshanna hier tatsächlich das Ziel, Hitler zu töten. Und wieder scheint sich der*die Zuschauer*In in Sicherheit zu wiegen, dass der Plan scheitern muss. Tarantino jedoch macht uns dabei erneut einen Strich durch die Rechnung, lässt Hitler sterben und die Basterds triumphieren.
Obwohl „Inglorious Basterds“ das lange Warten auf die vermeintliche Katastrophe fehlt, funktioniert die Erlösung durch das Abweichen von der Realität. Dies ist neben dem persönlichen Investment der Protagonisten vor allem der „Qualität“ des Bösen, die Hitler und die Nazis darstellen, geschuldet. Auch wenn die Taten von Charles Manson und seiner „Familie“ grauenhaft waren, lösen sie in den Zuschauer*Innen doch nicht denselben Schrecken aus wie unzählige Kriegsverbrechen und der industrielle Genozid des Holocausts. Der bloße Tod Hitlers reicht aus, um auch ohne stundenlange Erwartung ein Gefühl der Befreiung hervorzurufen.
Was als Essenz bleibt, beschreibt Pascal Blum in seiner Kritik zu „Once upon a Time“ in der Süddeutschen Zeitung: Beide Filme überschreiben „[…]die Geschichte des echten Grauens mit einem Popkultur-Skript.“ Denn in beiden Filmen nimmt das Ende die erwartete schreckliche Wendung und dreht sie in ein fast schon comichaftes Massaker, das mit dem Sieg der Helden endet. Passend, wenn man die Worte „Once upon a Time…“ beachtet, welche in beiden Filmen an hervorgehobener Stelle erscheinen (Filmtitel bzw. Name des ersten Kapitels). Denn wie in einem Märchen verbinden sich hier Realität und Fantastisches, um uns am Ende mit einer Moral zurückzulassen: Das Gute triumphiert über das Böse.
Bereits seit Kindertagen wissen wir, dass Geschichten, die mit „Es war einmal…“ beginnen, nie halten, was die drei Worte versprechen. Und so müssen die beiden Filme von Tarantino als Twist eines modernen Märchens das tun, was die eingangs erwähnten Biopics und Historiendramen stets vermeiden sollten: Die großen Ereignisse der Geschichte ändern, um der Realität die Fantastik und Moral zu verpassen, die ihr in Wirklichkeit fehlen.
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