Vor einiger Zeit brachte mich ein Tweet über eine Aussage von Dan Houser, ehemaliger Senior Writer für die Grand-Theft-Auto-Reihe, zum Nachdenken. In diesem Post ging es darum, weshalb man sich bei der Konzipierung von GTA 5 nicht für eine weibliche Protagonistin entschieden hatte. Der Grund: Man habe nicht nach einer Checkliste vorgehen wollen.

Diese Aussage verrät etwas darüber, wie Spieleentwickler:Innen die Auswahl des Geschlechts von Charakteren angehen. Sich als Studio für eine weibliche Protagonistin zu entscheiden, wird als bewusste Entscheidung gesehen, während der männliche Protagonist als “Status Quo” gilt. 

Eine Eigenschaft bewusster Entscheidungen ist, dass sie Mut erfordern. Ein bereits vorhandener “Normalfall” tut dies hingegen nicht. Wenn man Mut als die Bereitschaft versteht, trotz einer Angst zu handeln, dann muss Rockstar folgerichtig Angst vor den Folgen einer Entscheidung für eine weibliche Protagonistin haben. Diese Angst besteht dabei aus zwei verschiedenen Aspekten.

Die Angst vor „Gamern“…

Der offensichtliche Punkt ist die Angst vor den Personen, die man als eigenes Kernpublikum versteht. Also hauptsächlich männliche, weiße Spieler, die sich selbst als “Gamer” bezeichnen. Es ist dieselbe aus Misogynie geschöpfte Angst, die unter anderem Ubisoft dazu brachte, in “Assassin’s Creed: Odyssey” neben der von Beginn an geplanten Heldin Kassandra noch einen männlichen Gegenpart einzubauen. Es ist die Angst vor einer lauten Minderheit, die für sich beansprucht, als einzige Gruppe ein Anrecht auf Repräsentation in AAA-Spielen zu haben. Und es ist die Angst, von dieser Gruppe als “woke” wahrgenommen zu werden. Als ein Spieleentwickler, der statt auf Kreativität auf eine Checkliste setzt, um angeblichen linken Standards zu entsprechen.

…und die Angst vor dem Scheitern

Weniger offensichtlich ist die Angst, mit einem moralisch fragwürdigen weiblichen Hauptcharakter Neuland zu beschreiten. Die Suche nach spielbaren Antiheldinnen in großen Spieleproduktionen ist wie die metaphorische Nadel im Heuhaufen – und außerhalb von Spielen mit Charakter-Editor wie “Saints Row” findet man sie noch seltener. Wenn es überhaupt eine Frau zum spielbaren Charakter eines AAA-Titels schafft, dann nur als typische Heldenfigur. Die Idee einer weiblichen Protagonistin, die Banken ausraubt, mit Drogen dealt und wahllos Zivilist:Innen erschießt, passt nicht in dieses Bild. 

Insbesondere auch, da sich die GTA-Serie durch das Zelebrieren des klassisch “Maskulinen” auszeichnet: Schnelle Autos, Gewalt, Waffen und normschöne Frauen als schmückendes Beiwerk. In einer Spielereihe, die so stark von einer derartigen Symbolik geprägt ist, kann es schnell passieren, das die weibliche Hauptfigur unglaubwürdig oder parodistisch wirkt, wenn Setting, Umgebung und Verhalten (wie beispielsweise der Besuch im Strip-Club als Freizeitaktivität) einfach übernommen werden. Gleichzeitig will sich die Serie treu bleiben. Den passenden Mittelweg zu finden würde Fingerspitzengefühl benötigen – und die Bereitschaft, das Risiko einzugehen, dass die Figur scheitern könnte.

Traut euch, Rockstar!

Dass weibliche Hauptcharaktere auch außerhalb des klassischen Heldenbildes durchaus möglich sind, hat in diesem Jahr “The Last of Us: Part II” bewiesen Auch wenn das Spiel in meinem Umfeld nicht überall gut ankam, porträtieren die Entwickler:Innen darin dennoch zwei glaubwürdige Protagonistinnen abseits des heroischen Schemas. Und gleichzeitig ist das Spiel aus finanzieller Sicht ein gigantischer Erfolg.

Rockstar muss also keine Angst haben. Das Unternehmen hat das Talent und die Ressourcen, um einen packenden weiblichen Hauptcharakter zu schreiben, welche die Gangster-Fantasie der Serie erfüllt und gleichzeitig glaubwürdig wirkt. Das traue ich Rockstar durchaus zu. Und wer weiß? Vielleicht entwickelt sich die Serie aus einer solchen Entscheidung in eine unerwartete, kreative Richtung weiter? Alles, was es dafür braucht, ist etwas Mut.


Alana Friedrichs

Hauptberuflich schreibe ich über Technik-Themen, in meiner Freizeit lieber über digitales Entertainment - Filme, Serien, Games, usw. ACHTUNG: Kann Spuren von Queer-Feminismus enthalten.

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